Als Deniz sich am 1.1.2o12 auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela machte, trank er jeden Tag 3 Flaschen Korn. Manchmal auch mehr. Er hatte seinen Pass verloren und eine Aufenthaltermittlung offen. Er war zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt, 12 Jahre davon alkoholabhängig und 10 obdachlos.
Kennengelernt hatte ich ihn gleich am Anfang vor 2 Jahren als sensiblen Menschen, immer im Schneidersitz sitzend, mit Gitarre und mindestens einer Flasche Schnaps zwischen den Beinen.
Weil mir sein psychischer und körperlicher Zustand nicht aus dem Kopf ging und ich mir ziemlich viele Gedanken darüber machte, wie es ihm wohl geht, habe ich über das Gästebuch hier auf der Website dann herausgefunden wie der aktuelle Stand der Dinge dort in Spanien/Frankreich war und erfuhr, daß Deniz sich alleine auf den Rückweg gemacht hatte.
"Rückweg?", dachte ich...Wollte er denn tatsächlich, trotz der ganzen Schwierigkeiten, die ihn hier in Deutschland erwarteten, zurückkommen?
Ja, er wollte und: ja, er tat.
Hatte sich auf dem Hinweg nach Santiago langsam herunter dosiert und bestritt den gesamten Weg zurück allein, nur mit seinem Hund " Özgür" und komplett ohne Alkohol.
Er wollte neu anfangen und alle Altlasten abtragen.
Als ich ihn am 17. August 2o12 in Saverne, einem Ort in der Nähe von Straßbourg traf, war er insgesamt 8 Monate unterwegs gewesen, hatte fast 4000km zu Fuß zurück gelegt und war 4 Monate trocken. Madeleine, die ihn besser kennt, als jeder andere, begleitete mich und so verbrachte ich meine ersten zwei Nächte in meinem Leben "auf Platte".
"Sylvie, bitte sei mir nicht böse, aber, ganz ehrlich...Ich kann mich überhaupt kein bisschen an Dich erinnern," war so ziemlich das erste, was ich von Deniz zu hören bekam. Was auch nicht sonderlich verwunderlich war, bei den Mengen an Alkohol, die er damals täglich in sich rein schüttete. Umso erstaunlicher fand ich es, dass er sich darauf eingelassen hatte, sich mit mir zu treffen und mir zu vertrauen.
Es waren schöne 2,5 Tage. Tage, in denen unheimlich viel geredet und gelacht wurde. In denen eine Offenheit und Herzlichkeit herrschte, die ich so in dieser Art noch nie zuvor erleben durfte. Es war eine Zeit voller Möglichkeiten und kleiner Wunder. Zu erleben, wie sich jemand am Schlavittchen aus diesem ganzen Schlamassel heraushangelt und ganz vorsichtig die Nase in den Wind hält und tief durchatmet, dass ist schon etwas absolut Besonderes.
"Der schwierigste Teil Deiner Reise wird erst beginnen, wenn Du wieder zurück in Deutschland bist," hatte während der Pilgerreise jemand zu Deniz gesagt.
Innerhalb von 4 Wochen hatte er es geschafft, eigenständig sämtliche Formalitäten zu regeln:
Kontakt aufgenommen zu Anwalt und Bewährungshelfer, Arbeitsamt, Pass beantragt, Renten - und Krankenversicherung, gerichtliche Anhörung, Teilnahme an AA-Meetings, Kontaktaufnahme zu verschiedenen Suchtberatungsstellen. Zusätzlich hatte er "Özgur" zu einem lieben Freund gegeben, denn die Freiheit, die das Tier in all den Monaten bekommen hatte, würde er von nun an dem Hund nicht mehr bieten können.
Özgur bedeutet auf kurdisch "Freiheit".
Eigentlich hatte Deniz vor, wieder zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen. Aber er merkte zwischendurch immer wieder, dass er so weit noch nicht war und einen ganz fest durchstrukturierten und geregelten Tagesablauf benötigt. Denn der Kampf mit der Sucht hatte erst begonnen. Gut konnte man beobachten, wie es oft in ihm arbeitete...dieses alte Leben. Diese ganzen alt eingefahrenen Mechanismen.
Aber immer, wenn es an ihm zerrte und zog, dann lief er. Ging spazieren. Oft kilometerweit. Er las viel, informierte sich über alle Möglichkeiten, versuchte sich abzulenken. Wege zu finden.
Letztendlich hat er sich relativ kurzfristig für die "Fleckenbühler" entschieden. Eine Einrichtung in Frankfurt/Main, geführt von ehemals selbst abhängigen Menschen. Dort hat er erst einmal keinerlei Kontakt zur "Gesellschaft", sprich unserer abhängigen Welt, wie wir sie kennen. Der Vorteil aber: Man wird dort ohne Kostenzusage des Rentenversicherungsträgers oder Krankenkasse Tag- und Nacht aufgenommen. -
No matter what.
Jetzt ist er erst einmal für 2 Wochen dort. In dieser Zeit kann er sich entscheiden, ob diese Lebensform etwas für ihn ist.
Nachtrag:
Zwei Wochen sind vorbei und Deniz hat mir die erste Karte geschrieben in der er mir mitteilt, dass er sich entschieden hat zu bleiben: Er wird Praktika ableisten und auf das Abitur vorbereitet.
Nach telefonischer Rücksprache mit der Leitung der Einrichtung wurde mir gesagt, dass nach 3 Monaten das erste Mal Kontakt (extern) stattfinden kann. D.h. ich kann ihn dann besuchen und auch ein Briefkontakt wird möglich sein. Aber nur, wenn er produktiv ist und beiderseitig erwünscht.
Update im September 2013:
Nachdem Deniz am 5.Februar für sich entschieden hatte, dass er nicht dauerhaft bei den Fleckenbühlern würde leben können, hatte er innerhalb von kürzester Zeit einen schweren Rückfall, lebte wieder auf der Strasse und fand schliesslich Obdach in einer Wohngemeinschaft in Neustadt/Weinstrasse. Alle seine Bemühungen, den Alkoholkonsum einigermassen in den Griff zu bekommen endeten im Desaster: Er kam mit fast 5 Promille ins Krankenhaus.